(Mittwoch, 18. Oktober 2023)

[Slavoj Žižek: (Keine) „Paradoxien der Mehrlust“]

Buchmesse Frankfurt


Als „gute Nachricht: Es gibt keine Zukunft“

 

Eine andere Seite zu vertreten erfordert Stärke, besonders, wenn diese Seite die unbequemere ist. Neutralität und Verständnis für die Probleme aller Beteiligten jenseits einer emotionalen Gefühlslage zu haben, erfordert Mut, dem Hass und der Enttäuschung der anscheinend Missverstandenen entgegenzutreten. Die eigenen Gefühle auf andere projiziert, das hat schon Joseph Goebbels. Slavoj Žižek empfiehlt hier die Rede von 1943 auf YouTube und der Philosoph schlägt vor, diesem Mann bei dessen Worten – die Deutschen sollen mehr opfern – einmal ins Gesicht zu schauen: Dort findet sich die Definition von Mehrlust. Und nein, nur weil Hitler und Konsorten studiert werden, heißt das nicht, dass mit ihnen sympathisiert oder ein Verständnis für die Gräueltaten da ist. Erkenntnis setzt eine Auseinandersetzung voraus.

 

Rückblick auf die Rede vom 17. Oktober (eine Woche nach dem Angriff auf Israel)

 

Noch stark beschäftigt Slavoj Žižek am Tag danach die Tumulte während seiner Eröffnungsrede bei der Buchmesse Frankfurt 2023. Er verurteilt „ohne Wenn und Aber“ die schrecklichen Taten der Hamas in Israel – aber, fügt er hinzu, wo ist die Diversität im Diskurs, wenn die palästinensischen Stimmen (auf der Buchmesse) fehlen? (Eine Gleichstellung, – wo die russischen Stimmen aktuell genauso fehlen?) Oder wie Ehud Olmert, der frühere Premierminister von Israel, einmal sagte: Es ist absolut notwendig, die Hand auszustrecken gegenüber den Palästinensern, die keine Terroristen sind. Denen gegenüber die Taten einer Gruppierung, einer Politik steht, die über ihre Köpfe hinweg eine Positionierung bestimmen – wo die Bevölkerung nur ein friedliches Zusammenleben möchte.

 

Er sieht es als wichtig an, das Wort „aber …“ einzusetzen, um im kritischen Dialog das Verständnis voranzubringen und die Vielfalt der Stimmen zu hören. Warum muss die Cancel Culture alles niedermähen, was anscheinend nicht den Richtlinien einer Vorstellung entspricht? Am Abend zuvor kam der Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker (CDU) extra auf die Bühne, um sich der Rede entgegenzustellen und deren Unmöglichkeit zu belegen. Unruhen, die diplomatisches Geschick erfordern, was dem Philosophen manchmal abhanden kommt. Aber jemanden so zum Schweigen bringen zu wollen, der sich kritisch äußert, das sind für ihn DDR-Zustände. Slavoj Žižek sieht eine selbstzerstörerische Destruktion in der Politik, in der Art und Weise Debatten zu führen. Sich immer fragen zu müssen: Bist du sicher, dass diese Worte niemanden beleidigt? Eine Bevormundung, wo denkende Menschen, wie Kinder behandelt werden.

 

Kann Antisemitismus in Frankfurt kritisch gedacht werden?

 

Natürlich kann auch ein kritischer Diskurs Vertrauen und Verständnis aufbauen, Spannungen, die sich über Humor lösen, mit der Kunst der Rhetorik. Scherze, die andere im ersten Moment rassistisch oder antisemitisch empfinden, – die aber im Kontext, im Gespräch mit allen Zwischentönen richtig verstanden und eingeschätzt werden können. Wo fängt Respekt an und wo hört Respekt auf? Wo fängt das Schwurbeln an und wo beginnt die Vernunft? Die Hamas will die Juden in Israel „aus dem Land und in den Fluss schmeißen“, – das ist kein Problem, welches erst seit gestern besteht. Slavoj Žižek erzählt von David Grossman, einem israelischen Schriftsteller, der, als er diese Phrase zum ersten Mal hörte, zutiefst erschrocken gewesen sein soll, weil er nicht schwimmen konnte – und so schwimmen gelernt hat. Das sei der wahre israelische Geist: das Kämpferische mit einer Prise Galgenhumor. 

 

Wenn es nur so einfach in der Realität wäre, wie in dem monologisierenden Streitgespräche des Philosophen im Stil von Marcel Reich-Ranicki, – und das Lachen aus dem Publikum gleichauf geteilt werden könnte, mit der geschundenen Atmosphäre im verbrannten Land. Wenn es dort nur genauso leicht und locker von den Lippen kommen könnte wie hier im geschützten Raum, wo sie die Toten stetig neu beerdigen, über Jahrzehnte hinweg Hass eingelernt und das Töten eingeübt wird. Doch im gestressten Frankfurt ist das Zeitfenster der Ereignisse für ein Gespräch wie stets nicht groß genug, um die Welt nicht nur anders zu denken, sondern auch aktiv anders formen zu wollen.

 

So muss Slavoj Žižek doppelt so schnell sprechen, ohne dass am Ende Probleme tief gehend aufgearbeitet und Zusammenhänge wirklich begriffen werden. Um zu einem Verständnis zu kommen, dass Gewalt keine Lösung ist, – übrigens auch nicht von den Linken, die dies ebenso praktizieren: Auch dies kritisiert der Philosoph scharf. (Sollten nicht gerade diese für ein moralisches Erwachsensein und eine authentische soziale Demokratie stehen? Für das, was im Miteinander fehlt?) Wie nach einer wilden Feier, die schnell Erleichterung, Verdrängung und Loslösung von Sorgen bringt, wird erst am nächsten Morgen eine Konsequenz sichtbar sein: Auch für ihn, denn er wäre nicht der Erste, der über eine kritische Rede zum Thema Antisemitismus in Frankfurt stolpert. Arge Analogien zu Martin Walser in der Paulskirche 1998 schleichen sich in das kritische Gefühl, – das in Anbetracht der Umstände weder lachen noch weinen möchte. 


© Tina Waldeck 2023