[ Ask Dr. Ruth ]

Ryan White | United States, 2019


Schabbat Shalom!

Ein fröhliches Summen begrüßt den Zuschauer. Gut gestimmt sitzt eine kleine, ältere Dame an einem Tisch und fragt mit etwas kratzigen, aber freundlicher Stimme: „Alexa, weißt du eigentlich, wer Dr. Ruth Westheimer ist?“ „Eine jüdische Immigrantin aus Deutschland, die in Amerika zu einer Pop-Ikone, Medien-Persönlichkeit und Sexualtherapeutin wurde“, kommt als Antwort kurz und bündig zurück. Die Frau lacht herzlich. In einer Mischung aus deutsch, jiddisch und englisch redet sie selbst wie ein Wasserfall: Eifrig werden auch trotz ihres hohen Alters von 90 Jahren immer noch Termine gemacht. Ruhestand gibt es für sie nicht. Sie gibt immer noch zwei Kurse am College und fliegt dazwischen zu Vorträgen, Veranstaltungen und Gastvorträgen, schreibt Kolumnen und Bücher. Selbst ihr ernannter Kommunikationsminister hat mittlerweile schon ein ordentliches Alter erreicht. Er arbeitet seit 36 Jahren für sie. ER würde ja gerne in den Ruhestand. Aber wenn sie halt nicht will… Schnelle Musik begleitet sie, als die kleinwüchsige, nur 1,40 m große Frau eifrig einen Weg entlang läuft. Viele können mit ihrem Tempo nicht Schritt halten. Selbst einen persönlichen Archivar hat sie mittlerweile, der alle alten Aufnahmen aus Film und Fernsehen sowie Zeitungsartikel sorgsam in kleine Kästen verpackt. Ein bewegtes und umfangreiches Leben.


Filmbild aus Ask Dr. Ruth ©Ryan White
Filmbild aus Ask Dr. Ruth ©Ryan White

Rückblick auf die jüdische Vergangenheit in Deutschland

Kolorierte Animationen von ihr als Kind. Am 04. Juni 1928 wurde sie als Karola Siegel in einem Dorf in der Nähe von Frankfurt am Main geboren, die einzige Tochter einer russisch-orthodoxen Familie. Als die Nazis an die Macht kommen, ist sie erst zehn Jahre alt. Der Vater wird abgeführt und winkt noch einmal aufmunternd lächelnd zum Fenster hoch. Synagogen werden in Brand gesteckt und jüdische Geschäfte geplündert, als er aus dem Arbeitslager eine Postkarte an die Familie schickt: Seine Tochter soll sich einer Gruppe russisch-orthodoxen Kinder anschließen, die in die Schweiz einreisen dürfen. So sitzt sie schließlich am Frankfurter Hauptbahnhof alleine mit anderen Kindern in einem Waggon und tut das, was sie zuvor bei ihrem Vater gesehen hat: Sie winkte und lächelte zu ihrer Mutter und ihrer Oma, um ihnen den Abschied leichter zu machen.

Sie kommt in das Waisenhaus Wartheim in der Schweiz. Als Kinder zweiter Klasse müssen die Neuankömmlinge sich um die anderen Kinder und um den Haushalt kümmern. Mit 11 Jahren trifft sie hier ihren ersten Freund. Zwei einsame Kinder, die langsam Teenager werden und zu experimentieren begingen. Irgendwann gibt es Gerüchte, das sie ihm ihre Brüste gezeigt hätte. Nur eine Kleinigkeit, aber sie bekommt Angst. Was, wenn sie aus dem Waisenhaus rausfliegen würde, wo sollte sie dann hin? Also gab es keinen Sex, nur Umarmungen und Küsse im Verborgenen. Schon damals fragt sie sich, warum Menschen eigentlich denken, dass das schmutzig ist, was sich so positiv anfühlt? Früh erkennt sie, wie wichtig das Bedürfnis ist, einfach liebevoll berührt zu werden. Das Gefühl zu haben, beschützt und geliebt zu werden.

Am Anfang bekommt sie noch Briefe von zu Hause, die ihr eine positive Atmosphäre vermitteln. Ihr Vater schreibt Gedichte. ‚War die Chanukka-Party im Waisenhaus auch schön?‘, fragt die Mutter. Sie wiederum erzählt, dass sie im nächsten Frühling die Schule beenden muss, denn die Mädchen aus dem Waisenhaus dürfen nicht in die Oberschule. Sie soll Hausangestellte werden. Aber ihr Freund darf weiterhin zur Schule: Er versteckt sich im darauffolgenden Jahr nachts immer unter ihrem Bett, damit sie mit seinen Büchern weiter lernen kann. ‚Lerne, denn niemand kann dir das gelernte wegnehmen‘, schreibt der Vater da. ‚Hoffentlich wächst du trotzdem zu einer anständigen Frau heran!‘, hofft die Mutter. Danach wartet sie lange auf den nächsten Brief von Zuhause: eine Woche, neun Wochen, drei Jahre, fünf Jahre ... Die Kinder, die illegal in die Schweiz reisen, erzählen schreckliche Dinge aus der Heimat.


Filmbild aus Ask Dr. Ruth ©Ryan White
Filmbild aus Ask Dr. Ruth ©Ryan White
Filmbild aus Ask Dr. Ruth ©Ryan White
Filmbild aus Ask Dr. Ruth ©Ryan White

Als der Krieg vorbei ist, werden im Waisenhaus Listen vorgelesen, auf denen die Namen derer Eltern stehen, die überlebt haben. Ihre sind nicht dabei. Wohin soll sie jetzt gehen? Sie ist keine Deutsche mehr und noch nie Schweizerin gewesen. 17 Jahre ist sie, als sie wieder in einen Waggon gesetzt wird, der sie nach Marseille bringen wird, von wo aus es mit dem Schiff weiter geht nach Palästina – in eine Kollektivsiedlung für Juden: in das Kvutzat Yavne in Israel. Hier darf sie nicht mehr Karola heißen, das klingt viel zu Deutsch. Also nimmt sie ihren mittleren Namen an: Ruth.

Die Suche nach einer Familie und einem Zuhause

Hier trifft sie auf einen sehr gebildeten und gut aussehenden Soldaten der israelischen Armee; ihren ersten Ehemann. Als dieser 1951 von Israel nach Paris gehen will, um Medizin zu studieren, begleitet sie ihn. An der Sorbonne konnten alle, die wegen des Krieges keinen Schulabschluss hatten, ein Vorbereitungsjahr für ein Studium machen. Sie wollte weiter lernen und schaffte es: Sie konnte sich am Institut für Psychologie einschreiben. Als David sein Medizinstudium abbricht und zurück nach Israel will, ist für sie klar, dass sie hierbleiben und weiterlernen möchte. Er willigt in eine Scheidung ein. In Paris trifft sie ihren zweiten Ehemann, von dem sie erst schwanger wird und ihn dann halt heiraten muss: Denn das macht man in dieser Zeit so. Aber als ihre Tochter Miriam auf die Welt kam, war sie glücklich. Für sie, die ohne Familie aufgewachsen war, ist ihre kleine Familie eine große Freude.

Ihr ganzes Leben lang wollte sie schon in die Vereinigten Staaten. Als dann überraschenderweise ein Scheck kam für alle, die wegen des Holocausts die Schule nicht beenden konnten, leistete sich die kleine Familie eine Überfahrt auf einem Schiff in der vierten Klasse. Sie beziehen eine 2-Zimmer-Wohnung in New York im dritten Stock eines Hochhauses. Hier erkennt sie, dass das Ehepaar keine Zukunft mehr hat: Er war kein Intellektueller wie ihr erster Ehemann und sie war gelangweilt von ihm. So trennten sich die beiden und er bekam das Auto, sie behielt das Kind. 1958 war sie eine alleinerziehende Mutter in einem unbekannten Land, dessen Sprache sie nicht sprach. Ein Dollar die Stunde bekam sie als Hausmädchen. So schnell wie möglich verbessert sie mit Liebesromanen ihr englisch. Und bei einem Ski-Ausflug trifft sie zufällig auf Manfred Westheimer, den Leiter des jüdischen Skiklubs. Sie fahren mit dem Schlepplift gemeinsam den Berg hinauf, und als sie oben ankommen, hat sie herausgefunden, dass er 35 Jahre alt ist, als Ingenieur arbeitet und noch nie verheiratet gewesen ist. Sie mag ihn sofort. 1961 heirateten die beiden. Er adoptierte Tochter Miriam und sie bekommen Sohn Joel. Ein größeres Apartment wird in einer Gegend voller Einwanderer-Familien gefunden. Sie hat ihr langersehntes Zuhause.


Filmbild aus Ask Dr. Ruth ©Ryan White
Filmbild aus Ask Dr. Ruth ©Ryan White
Filmbild aus Paris Calligrammes ©Ulrike Ottinger
Filmbild aus Paris Calligrammes ©Ulrike Ottinger

Ab 1967 wird sie von hier jeden Tag nach Halem zur Arbeit fahren, wo sie bei Planned Parenthood als Familienberaterin Frauen ohne Highschool-Abschluss ausbildet. Im selben Jahr beginnt sie ihre Doktorarbeit am Teachers Collage der Columbia University über Verhütungs- und Schwangerschaftsanamnese. In einer Zeit, wo Abtreibung noch illegal war! So viele Fragen wurden ihr in Harlem dazu gestellt – und auch Fragen zur Sexualität, die sie da noch nicht beantworten kann. 1974 gab es an der Cornell University eine berühmte Sexualtherapeutin: Dr. Helen Singer Kaplan. Sie bewirbt sich bei ihr für die Teilnahme an einem Weiterbildungskurs und wird zugelassen. Sieben Jahre wird sie mit ihr im Bereich der Sexual- und Paartherapie zusammenarbeiten und ist im Himmel: Das Wort Sex bedeutet im hebräischen gleichzeitig, sich gegenseitig zu erkennen. Sich Zeit zu nehmen, zuzuhören und miteinander zu reden. Etwas Positives, das die Familie zusammenhält. In diesem Bereich findet sie endgültig ihre Berufung. Und als sie dann mehr zufällig in einer Radiosendung über die Notwendigkeit von Sexualkunde spricht, verbreitet sich ihr Name wie ein Lauffeuer in den Medien.

Fazit

Der Film vermeidet es erfreulicherweise, sich Dr. Ruth nur über das Thema Sex zu nähern – und die kleine lebenslustige Frau damit zu banalisieren. Immer wieder klingen auch die ernsten Töne an, so zum Beispiel, wenn sie 1947 im Guerillakrieg zwischen Juden und Arabern eine Scharfschützin der Hagana – der zionistischen paramilitärischen Untergrundorganisation in Palästina – wird, oder wenn sie Jahre später das Yad Vashem, Holocaust Gedächtniscenter besucht, um nach dem genauen Verbleib ihrer Eltern zu recherchieren. ‚Weinen wird sie später, wenn keiner um sie herum ist. Jeckes, deutsche Juden, weinen nicht in der Öffentlichkeit‘, wird sie später in das Gästebuch der Stätte schreiben. So bildet der Film bis hinein zu den Outtakes einen Gesamteindruck von ihrem Charakter mit allem Facettenreichtum und gibt damit auch der privaten Dr. Ruth einen Raum, in dem sie sich mit ihrer kleinen großen Attitüde, der herzlichen Ehrlichkeit und einer fast schon unschuldigen Offenheit ganz entfalten kann. Nach dem Film ist man zwar von ihrem Wesen genauso erschöpft wie ihr Kommunikationsminister, aber doch glücklich, sie ‚kennengelernt‘ zu haben.



Ask Dr. Ruth hatte seine Weltpremiere auf dem Sundance Film Festival 2019 und konnte unter anderem den Critics' Choice Documentary Awards 2019 für sich gewinnen. In Deutschland lief er bei vielen jüdischen Filmfestivals als auch auf dem Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest 2020 in der Online-Edition unter der Sektion DokfestGeneration.


© Tina Waldeck 2020