[ Dylda ]
Kantemir Balagov | Russland 2019
Leningrad im Jahr 1945. Es wird nach Atem gerungen.
Präzise und feinfühlig inszeniert der 1991 geborene Regisseur in seinem erst zweiten Langspielfilm die erdrückende Schwere der frühen Nachkriegsszenerie mit den darin vorsichtig wachsenden, absterbenden und wieder neu aufkeimenden Gefühlen. Kantemir Arturowitsch Balagow orientiert sich dabei frei an dem Buch von Svetlana Alexievichs »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht«, in dem gerade die Frauen unter den Kriegsauswirkungen enorm leiden. Mit proaktiven Handlungen, die immer auch Bestrafungen nach sich ziehen, wird das Überleben des Stärksten ironisch verdreht: Denn alle, die überlebt haben, fühlen sich noch (trotz ihrer Größe) heteronom und zerbrechlich.
Iya, auch Bohnenstange genannt, kümmert sich um den kleinen Paschka, der von allen als ihr Sohn anerkannt wird, aber eigentlich der Sohn ihrer Freundin Masha ist, welche sich noch an der Front – in "unterstützender Rolle" – befindet. Die beiden Frauen lernten sich damals an der Front kennen, wo auch Paschka zur Welt kam. Doch durch ein Schädel-Hirn-Trauma musste Iya zurück und nahm den Jungen mit sich, in die größere Sicherheit. Seitdem leidet die junge Frau an immer wiederkehrenden Anfällen, bei denen sie unfähig wird, aktiv zu handeln und in eine Starre fällt. Durch diese Erkrankung kommt es an einem Abend zu einem Unfall, an dem der kleine Paschka sein Leben verliert. Wie betäubt geht Iya danach weiter durch den normalen Krankenhaus-Alltag; solange, bis Masha von der Front zurückkehrt. Freudig zeigt sie ihr, was sie alles mitgebracht hat. Unter anderem: ein Stofftier für Paschka. Irgendwann umklammert die Freundin mit einem festen Griff Iyas Genick. Wo ist er? Wo ist ihr Sohn? Das Kerzenlicht flackert auf den starren, vor unterdrückten Emotionen bebenden Gesichtern. Schmerzen. Immer wieder. Doch Masha findet schnell ein neues Ziel, um sich davon abzulenken. Sie will ein neues Kind bekommen. Doch die Ärzte erklären ihr, dass sie durch mehrere Abtreibungen mittlerweile unfruchtbar geworden ist. Nun stehe für Masha ganz klar ihre Freundin in der Bring-Schuld, denn diese hat ihr schließlich ihr Kind genommen ... Es beginnt ein gestörter Kreislauf zwischen Macht und Dominanz, Liebe und Hass in dem engen Bezug und der Abhängigkeit der beiden Frauen zueinander.
Trostlos und trotzdem lebendig. Distanziert und trotzdem intim. Sprachlos und trotzdem ausdrucksreich. Die Ästhetik bringt alle diese Variationen des Lebens als visuelles Element in die jeweiligen Räume, die präzise in der Filmsprache des Regisseurs inszeniert werden. So verschwinden die verstaubten Farben einer vergangenen Epoche immer mehr und das intensive Rot, das teils an Blut erinnert und noch überall zu kleben scheint, wird mehr und mehr überlagert mit einem Grün der Hoffnung. Wachstum, in Analogie zu dem Kinderwunsch? Sehnsucht nach etwas, das einem erfüllt und das Leben mit Sinn auflädt? Mit seinen bodenständigen Themen erweist sich Kantemir Arturowitsch Balagow ganz in der russischen Tradition des Filmemachens. Der ehemalige Schüler von Alexander Sokurov gewann bereits mit seinem Debütfilm Closeness in Cannes den FIPRESCI-Preis. Der Nachfolgefilm steht dieser Qualität in nichts nach, sowohl inhaltlich als auch ästhetisch… stark.
© Tina Waldeck 2020