[Eine Frau]
Jeanine Meerapfel | Deutschland, Argentinien 2021
Tiefe Wurzeln reichen von Baum zu Baum. Die Stimme der Filmemacherin durchdringt die Natur, als sie aus dem OFF von den Erinnerungen an ihre Mutter erzählt. Die Geschichte einer Immigration. Ein Kind namens Marie Louise, – genannt Malou, – kam 1911 auf die Welt und mit 6 Jahren in ein Waisenhaus: Die Mutter gestorben, der Vater im Krieg.
Die Entwurzelung eines Kindes ändert dessen Schicksal
Später nahm die Tante sie zu sich, die sie Kleidung nähen und reparieren lässt. Als sie von der Kleinstadt endlich wegkommt und nach Straßburg fahren kann, trifft Malou in einem Herrenladen den deutsch-jüdischen Angestellten Carl. Er erzählt ihr, dass er in Kur auf Davos eine argentinische Waise kennen und lieben gelernt hatte: Doch sie verstarb an Tuberkulose. Durch sie wurde er zu einem reichen argentinischen Staatsbürger namens Carlos – und um ihn zu heiraten, beginnt Malou die von ihm vergötterten Unbekannten zu imitieren und wird jüdisch.
Schon bald werden die beiden nach Holland fliehen, wo in Amsterdam die erste Tochter zur Welt kommen wird. Juden geben ihren Kindern die Namen der Verstorbenen, damit die Erinnerung erhalten bleibt: So wird diese nach der einstigen Liebe, Denise, benannt. Eine schwierige Geburt für Malou. Zudem bekommt sie plötzlich eine Nebenbuhlerin: Ruth. Als die Nazis 1941 auch dieses Land besetzen, reisen sie weiter: erst nach Berlin, dann mit dem Flugzeug nach Barcelona und mit dem Schiff nach Argentinien. Es ist das Land von Jeanine Meerapfel, – wo die Filmemacherin als zweite Tochter auf die Welt kommen wird. Benannt nach der Tante.
Die Erde dreht sich solange, bis sie die Sonne wiedersieht
Einen hohen Zuwanderungsanteil hatte Brasilien schon ab 1914 – ab 1930 wurde gefordert, Juden keine Visa mehr zu geben. Bei denen, die mit einer gemeinsamen Geschichte und einer Ethik als Verfolgte kamen, formt das Fremde die Gemeinsamkeit. Wie hat sich Malou dort gefühlt? Sie kamen zusammen, mit einem großen Vermögen, als wohlhabende Familie an und lebten in einem großen Haus mit Garten: Doch nur wenig später wird Carlos sie und die beiden Kinder verlassen und mit Ruth zusammen ziehen. Lange wahrt die Imitatorin auch hier die Fassade, trotz des langsam einsetzenden sozialen und physischen Abstieges. Exil ist nicht gleich Exil. Entwurzelung formt nicht immer das gleiche Gesicht.
Gespräch im Deutschen Filminstitut & Filmmuseum
Auch die Präsentation im Deutschen Filmmuseum ist für Jeanine Meerapfel Erinnerungsarbeit: An der Filmschule in Ulm hat sie bei Edgar Reitz und Alexander Kluge gelernt, ein Jahr lang in Frankfurt gelebt und im Film-Kollektiv an den Ebblwoi Motion Pictures gearbeitet: thematisiert in der Ausstellung »ausgeblendet / eingeblendet – Eine jüdische Filmgeschichte der Bundesrepublik« im Jüdischen Museum Frankfurt.
An diesem Abend erklärt die Filmemacherin und aktuelle Präsidentin der Akademie der Künste Berlin, dass es schwierig ist, eine persönliche Geschichte zu verfilmen, die keine private werden soll. Alle haben Geschichten und Erinnerungen, – aber wie steht die eigene in Bezug zu den anderen? Eine Annäherung an all die Frauen, die entwurzelt in fremden Ländern in dem Versuch zu überleben, auf Fotos und Filmaufnahmen immer lächeln, partout glücklich und perfekt aussehen. Eine gesellschaftliche Studie von dem Milieu, das sich Mühe gab und gibt, ein bestimmtes Bild abzugeben. Dem entgegen gab und gibt sich Jeanine Meerapfel in ihren minimalistischen Akzenten einer spielerischen Leichtigkeit hin, um eben keine Schärfe zu setzen, sondern ganz dem Gefühl zu folgen: für die unbestimmte Frau.
Deutschlandpremiere feierte «Eine Frau» auf dem DOK.fest München 2022 und lief danach u. a. auf dem Jüdischen Filmfestival Berlin Brandenburg 2022 – in der Sektion Wettbewerb Dokumentarfilm – sowie im Rahmen der Jüdischen Filmtage Frankfurt 2022 im DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum.
© Tina Waldeck 2022