[ Êxtase ]
Moara Passoni | Dänemark 2020
Im Vorspann das Stöhnen einer Frau. Als sich das Bild einblendet, läuft und läuft sie allen davon. 15 Jahre – will sie einen Marathon laufen? Keine Zeit.
Aufhören zu denken und nur die Zerstörung des Körpers fühlen
Alte Schwarzweißaufnahmen: Frauen, die sich in der Politik engagieren. Eine schwangere Frau rennt nicht. 38 Wochen ist der Fötus in dem Bauch, als diese Frau demonstrieren geht. Die Mutter der Filmemacherin: Adrenalin schmeckt bitter, auch schon für das Ungeborene. Ultraschallaufnahmen. Stress. Harter Bass wie fallende Bomben. Ein winziger Fuß. Eine winzige Hand. Zerbrechlichkeit. Da fällt ein Schuss. Dunkle und bedrohliche Architektur vor grauem Himmel. Eine Frau schreit: „I can handle it!“ – der Satz wird immer wieder wiederholt wie ein Zauberspruch. Ein junges Mädchen wird in einem Auto woanders hingebracht. Bunte Lichter in der finsteren Nacht. „How could this place be a home?“ Lange Räume. Verlassenheit. Stimmen, die sich überschlagen. Ein Waschraum mit anderen Mädchen. Gedanken über Sexualität. Die erste Periode. Das Mädchen küsste Maria auf den Mund. Eine Nonne läuft durch das Bild. Möge Gott sie beschützen. Das Mädchen wird abgeführt und kommt in eine andere Klasse. Religiöse Symbole. Wieder ein weibliches Stöhnen. Spiegelreflexionen. Eine Frau duscht vor dem Mädchen und trocknet sich an allen Stellen akkurat ab. Sie will, dass diese ins Ballett geht: Dort findet sie bestimmt Freunde. In einem klinisch weißen Ballettstudio werden Hände elegant gerichtet. Füße gedehnt. Sie ist so ruhig, so seltsam. Anders als die andere. Die Kinder lästern über sie. Wieder Fragilität.
Die Suche nach dem perfekten Lebensmittel, das die Seele nähren kann
Eine Geburtstagsfeier. Die kauenden Münder der schmatzenden Familienmitglieder. Sie hat das Essen für sich in verschiedene Kategorien eingeteilt. Dramatische Opernmusik. Harte Zeiten. Sie spuckt den Kuchen heimlich in ein Taschentuch und lässt es in der Tasche verschwinden. Eine Schere, die versucht, sich das Fett wegzuschneiden. Alles zu viel. Sie hat seit drei Monaten ihre Periode nicht mehr bekommen. Wieder harter Bass. Nervöse Hände. Er erinnert sich nicht mehr an sie, aber sie an ihn. Pornografische-Magazine. Nackte Körper. Das weinen aus dem OFF. Formen wie Körper. Formen wie Kuchen. Kuchen wie Körper. Wieder im Ballettstudio soll sie essen: Sonst darf sie nicht mehr tanzen. Zurück in der Dusche, in der nun sie steht – in Nebel eingehüllt. Wie ein See, der im verborgen liegt. Sie zieht sich aus. Möwenschreie. Langsam fährt die Kamera auf den hauchzarten Körper zu. Sie tastet nach dem Handtuch. Sie zieht sich an und stellt sich auf die Waage. Misst ihren Bauchumfang. Bunte Macarons drehen sich auf einer Scheibe in einer Vitrine. Sie seziert die Kuchen. Wie bei einem Häuten: Schicht für Schicht zieht sie ab. Ihr Wille ist stärker als die Versuchungen um sie herum. Supermarktregale. Essen, überall. Sie kauft ein und starrt die Lebensmittel zu Hause an, bis entweder sie oder die verrotten. Sich selbst reduzieren, um allen Ansprüchen zu genügen. Die Versuchung auf der einen, die ästhetische Perfektion auf der anderen Seite. Die Kamera zoomt lange an der Wand entlang. Leere Fläche, weißer Raum. Besorgt klopft die Frau an die Tür.
Der Körper als ein Schloss, gebaut für die völlige Isolation – nicht kommt herein, nichts geht hinaus…
Dornen, die eine Hand anfassen. Bäume wehen im starken Wind. Rabe und Uhu krächzen. Eine Schnecke kriecht in einen Totenschädel hinein, minutenlang. Aufgebahrte Knochen in einer Gruft. Depressionen und Elektroschocks. Keine Kontrolle mehr. Keine Selbstbestimmung. Auch kein Versuch dessen. Unterschiedliche Krankenhäuser – menschenleer. Wie Gefängnisse in Einzelhaft. Die Architektur, nur noch grau: Grotten und Tempel. Bedrohliches Gewittergrollen. Einsetzender Regen, der auf eine Wasseroberfläche fällt. Absolute Stille schließlich auf der Tonebene bei den explizierten Aufnahmen des ausgehungerten Körpers. Schonungs- und gnadenlos – auch für den Zuschauer.
Und irgendwann starb dieses Gefühl und die Realität kam wieder
Der Debütfilm von Moara Passoni basiert auf ihren eigenen Erfahrungen mit Magersucht, welche sie mit den Erfahrungen von anderen Frauen vermischt und erweitert. Ein Mädchen agiert hier wie das Spiegelbild für den Körper eines anderen Mädchens: als Kind, Jugendliche, junge Frau und Erwachsene. Das Überlagern der unterschiedlichen Geschichten zu einer gemeingültigen, exzessiven Erfahrung mit ähnlichen Sorgen und ähnlichen Problemen: die Idee, außerhalb sich selbst zu sein, sich zu reduzieren oder den eigenen Körper kontrollieren zu können. Wie Drogen, mit denen sie irgendwann nicht mehr aufhören können. Ein Krieg zwischen Verstand und Figur, Leiblichkeit und Körperlichkeit.
In der Realität jenseits des Films ist das Thema Magersucht immer noch ein Tabu, deshalb wollte die Regisseurin mit ihrem Film auch ein kleines Stück emphatischer Aufklärungsarbeit leisten, so wird sie nach dem Film im Deutschen Filminstitut & Filmmuseum Frankfurt am Main noch via Online-Schaltung erzählen. An großen Filmen wie L´eclisse von Michelangelo Antonioni hat sie sich orientiert, bei welchem sich auch oft über Nahaufnahmen die Gefühle für den Zuschauer genauso sanft mitentwickeln können wie die Gefühle der Charaktere selbst. Durch den experimentellen und non-linearen Ansatz in ihrer Geschichte dagegen erschafft sie in Êxtase einen ganz eigenständigen filmischen Ansatz: Eine Filmsprache, nach der sie lange gesucht hat. So wurden die Bilder mit dem Sound immer aufeinander abgestimmt, wie wenn am Ende Techno im Klub einsetzt und mit der sanften Ballettmusik im Inneren der Frau auch musikalisch in Konflikt tritt – und die Realität beginnt symbolisch gegen die Gefühle zu kämpfen. Mit solchen und noch mehr gefühlvollen Analogien konnte der Film bei dem diesjährigen LUCAS – Internationales Festival für junge Filmfans die Jury beeindrucken und den „LUCAS Youngster Award“ gewinnen.
© Tina Waldeck 2020