[Housewitz]
Oeke Hoogendijk | Israel, Niederlande 2021
Die Mutter der Filmemacherin hat einen wiederkehrenden Albtraum, in dem sie nicht weiß, wie sie nach Hause kommt. Genauso wie damals, als sie als jüdisches Mädchen mit 16 Jahren deportiert worden ist. Zu dem Zeitpunkt der Filmaufnahmen scheint der Holocaust immer noch als ein präsenter Mitbewohner in dem Messi-Haus anwesend zu sein. Gemischt werden Erinnerungen mit exzessiv rollenden Zügen aus dem Fernseher, die die Mutter gebannt verfolgt. Seit Jahren leidet sie an einer Agoraphobie: Die Angst, das Haus zu verlassen.
Manchmal ist es so, als würde sie gar nicht existieren
Sie telefoniert mit ihrer Tochter, denn ihr Kühlschrank ist leer. Eigentlich will sie diese damit gar nicht belästigen und sie ist auch nicht in Stimmung darüber zu reden. Sie hängt auf und flucht kräftig, das dokumentieren die – von ihrer Tochter mit ihrer Absprache – aufgehängten Kameras in den Zimmern. Aus dem OFF schneidet ihre Tochter ihre Stimme hinein und die Mutter erzählt, wie sie durch den Fernseher schon nach Island, Kolumbien und Finnland gereist ist. Wenn sie aber jemand in der Realität fragen würde, auf eine Reise zu gehen, dann würde sie antworten, dass sie „drei Jahre ihres Lebens damit verbracht hatte, in den Nazi-Lagern zu zelten“. Das hat ihr wirklich gereicht.
Die Tochter hat Kohlrabi vom einkaufen mitgebracht und ihre Mutter freut sich: Das kommt in ein Gulasch! Sie haben großartigen Gulasch mit Kohlrabi im Lager Westerbork – dem Judendurchgangslager in den Niederlanden – gemacht: In Theresienstadt war das Essen schrecklich, aber sie wird nie das Gulasch in Westerbork vergessen. Sie geht aus dem Bild und die Kamera zeigt übereinander gestapelte Berge von Dingen, alles liegt durcheinander. Chaos, als Sinnbild einer Desorientierung im Leben, weil sie nie gelernt hat Ordnung zu halten: Sie war mit überleben beschäftigt. Mit ihrer Tochter will sie die Briefe aus Westerbork sortieren. Ein schwieriges Unterfangen. Andere haben einen schönen Samstag und sie soll in das verdammte Lager zurückkehren, schimpft sie vor sich hin, – und ist doch gedanklich stetig dort.
Fazit
Mit Überwachungskameras wird Lous Hoogendijk-De Jong von ihrer Tochter kontinuierlich beobachtet. Das rastlose Suchen in dem Messi-Haus verfolgen die Zuschauenden als Laien-Therapeuten, wo der Ballast der letzten Jahre für die Frau zu hoch schien – und drei vergangene Jahre die Bedeutung eines Zuhauses zunichtegemacht haben. Ein unguter Rahmen, in welchem die zu spürende Verzweiflung auch immer eine Prise Liebe und Lachen beigemischt wird: in dem tragisch bedrückenden Porträt von Oeke Hoogendijk über ihre 2020 verstorbene Mutter.
«Housewitz» feierte die Weltpremiere auf dem International Documentary Film Festival Amsterdam 2021 in der Envision Competition, wo Oeke Hoogendijk eine lobenswerte Erwähnung bekam. In der Deutschlandpremiere lief der Film auf dem DOK.fest München 2022 unter BEST OF FESTS sowie auf dem Jüdischen Filmfestival Berlin Brandenburg 2022 in der Sektion Wettbewerb Dokumentation.
© Tina Waldeck 2022