[ Systemsprenger ]
Nora Fingscheidt | Deutschland 2019
Einhorn-Socken. Blaue Flecken. Verkabelungen am ganzen Körper. Ein Mann sitzt neben einem Mädchen in einer Arztpraxis. „Verträgst du die Medikamente?“, wird sie von einer Ärztin gefragt. „Nimmst du sie regelmäßig?“ „Jaaaa.“ Der Mann legt augenrollend den Kopf schief. „Wir werden die Dosis erhöhen. Gehst du schon wieder zur Schule?“ Benni, die es hasst, Benedette genannt werden – voll tussig, ey – zieht ihren Pullover über den Kopf. Nö, sie wurde suspendiert. „Was willst du später denn mal werden?“ Erzieherin! Sie schaut die Frau zum ersten Mal offen und fröhlich an. 9 3/4 Jahre ist sie schon alt.
Unstete Kamera. Farbflecken. Mit ihrer auffälligen rosa Jacke steht sie in einem Hof und schreit und schreit. Wütend nimmt sie ein Spielzeugauto und wirft es, dass selbst die Erzieher*innen flüchten. Jetzt ist Schluss, das ist in dieser Einrichtung bereits ihre dritte Verwarnung – die Verantwortlichen sollen sich nach einer neuen Wohngruppe für sie umsehen! Nur Probleme macht dieses Mädchen.
Überlagerungen, sanfte Töne. Fragmente von Haaren, Ohren mit Ohrringen. Das sanfte Summen ihrer Mutter. Emotionale Zustände von Benni. Sie erträgt es nicht, wenn ihr jemand ins Gesicht fasst. Ein frühkindliches Gewalt-Trauma erklärt die Betreuerin vom Jugendamt mal wieder. Sie muss auf einen Platz für die Trauma-Therapie warten, sie ist erst therapierbar, wenn sie irgendwo „angekommen“ ist. Eine geschlossene Unterkunft geht aber erst mit 12 Jahren. Wohin also mit dem Kind?
Wo passt man hin, wenn man sich nirgendwo einordnen kann?
„Erzieherin, bleib bei mir!“ Der kindliche Versuch, Nähe zu bekommen, – immer wieder. Oft redet sie von ihrer Mama und bekommt hinter dem abweisenden Schutzschild etwas ganz Weiches. Wann kommt ihre Mama sie in der neuen Einrichtung denn besuchen? Wieso dürfen ihre beiden kleineren Geschwister zu Hause sein und sie nicht? Die Betreuerin bemüht sich um das Mädchen. Oft, wenn sie versucht deren Mutter zu erreichen, entzieht sich diese der Verantwortung und läuft vor den Problemen davon. Sieht sie denn nicht, dass ihre Tochter sie braucht? Blöde Kuh ... Überforderung auf allen Seiten. Währenddessen leidet nicht nur Benni unter ihrer emotionalen Anspannung, sondern ihr ganzes Umfeld mit.
So langsam hat das Jugendamt nicht mehr so viel Auswahl, da sie bei vielen Einrichtungen bereits rausgeflogen ist. Während sie sich für den Übergang erneut in einer Neuen einrichtet und ihr Kuscheltier – einen Drachen – auf das Bett legt, kommt ein Mann in ihr Zimmer und schaut sich ihre Bilder an. „Ey Erzieher, – das darfst du nicht!“ Er positioniert sich breitbeinig vor ihr und sofort geht sie in Abwehrhaltung. „Ich bin kein Erzieher“, stellt er klar. Die Kamera schneidet zwischen den beiden hin und her. Gegenseitiges Mustern. Er stellt sich als ihr neuer Schulbegleiter Micha vor. Sonst arbeitet er nur mit straffälligen Jugendlichen. Alle haben die Hoffnung, dass vielleicht er mit ihr zurechtkommt. Sie geht aber nicht zur Schule, er soll sich verpissen!
Immer wieder wechseln sich solche aggressive Momente, in denen sie mit der Situation überfordert scheint und ein Schutzschild um sich herum aufbaut, mit denen ab, in denen sie sich liebevoll um kleinere Kinder oder Tiere kümmert. Vertrauen, dass sie ihrer Mutter und potenziellen Pflegeeltern entgegenbringt, wird immer wieder enttäuscht. So lässt Benni die Verletzungen, die sie erlebt, an anderen wieder aus und auch als Zuschauer fühlt man sich hin- und hergerissen zwischen den Momenten, wo man nur das kleine hilflose Mädchen in der rosa Jacke oder das psychisch instabile Gettokind sieht.
Dabei liegt der Fokus im weiteren Verlauf des Films auf der Beziehung zwischen Benni und Micha, der sie für drei Wochen mit in den Wald nehmen möchte. Kein Wasser, kein Strom, keine Menschen. MEGA, das wird der beste Urlaub, den sie je hatte! „Das ist kein Urlaub, das ist eine Erziehungsmaßnahme!", stellt er klar. Die Aufgabe: Die Emotionen nicht immer einschränken, bis sie in Aggressionen hervorbrechen. Sie schreien einen Abhang hinunter; mit dem Echo im Duett. Schlagen mit einer Axt auf eine Hütte. Zwischen Kindlichkeit und Kämpferwillen. Und erneut wechseln sich vorsichtige Höhen mit extremen Tiefen ab.
Bei der diesjährigen Edimotion – Festival für Filmschnitt und Montagekunst waren die beiden Editoren des Filmes, Julia Kovalenko und Stephan Bechinger, eingeladen, die erzählten, das Nora Fingerscheidt ihnen ungewöhnlich viel kreativen Freiraum im Schnitt gelassen hatte. Diese Freiheit sowie das Gefühl des Experimentierens kommt besonders gut in den abstrahierten emotionalen Zuständen zur Geltung, die unscharfe Detail-Fragmente zeigen und noch einmal das Wesen des Mädchens in ihrer Fragilität weiterzutragen scheinen. Schon bei seiner Weltpremiere auf der Berlinale 2020 konnte der Film den Silbernen Bären Alfred-Bauer-Preis (welcher 2020 das letzte Mal verliehen worden ist) für sich entscheiden und seitdem unzählige weitere Preise gewinnen, ebenfalls auch schon speziell für den Schnitt, der viel zur besonderen Atmosphäre beiträgt: So konnten Julia Kovalenko und Stephan Bechinger nun auch den „NRW Schnitt Preis Spielfilm“, gestiftet von der Film- und Medienstiftung NRW in Höhe von 7.500 Euro, mit nach Hause nehmen.
© Tina Waldeck 2020