[The Case You]

Alison Kuhn | Deutschland 2020


Das fehlende Einverständnis

Eine Gruppe von fünf jungen Frauen tritt entschlossen auf eine Bühne. Sie drehen die Köpfe synchron nach rechts, nach link, strecken ihre Hände nach vorne, nach hinten und wieder nach vorne. Eine Beschauung der jeweiligen individuellen, körperlichen Begebenheiten innerhalb ihrer Gemeinschaft. „Mehr frontal bitte“, kommt es aus dem OFF. 


Filmbild aus The Case You © Alison Kuhn | Deutschland 2020
Filmbild aus The Case You © Alison Kuhn | Deutschland 2020

Ein Stuhl wird sorgsam vor der Kamera positioniert und eine nach der anderen setzen sie sich dort hin, – mal mehr, mal weniger selbstbewusst. Eine Nachbesprechung im Stil eines Castings über ein reales Casting, indem alle fünf Frauen (inklusive der Regisseurin) involviert waren. Nervös streicht sich eine durch das Haar. Im Krippenspiel musste sie immer das Schaf spielen, erzählt sie. Wie viele Kompromisse soll eine Schauspielerin eingehen, nur um einmal die Maria spielen zu dürfen? Vielleicht würde es bei diesem Casting für die große Rolle reichen? Doch anstatt ihren Namen in leuchtenden Reklamebuchstaben im Kino zu sehen, wollte sie danach am liebsten sowohl ihren Beruf als auch ihre Identität wechseln. Alle Mädchen mussten sich in langen Reihen gegen die Wand stellen. Unbehaglich rutscht sie auf ihrem Stuhl herum und beschreibt ihre Assoziation von Nazis, die gerade Ermordungen ausführen.

Exzessives Spiel oder Grenzüberschreitung?

Im Vorfeld hatten sie ein Drehbuch zugeschickt bekommen, um sich auf die Rolle vorbereiten: Eine 15-Jährige wurde gesucht, die klar kommuniziert, dass sie sich hoch schlafen würde. Aber das sollte ja nur eine Rolle sein. Wie hätten sie davon ausgehen können, dass die erfahrene Leitung plötzlich ohne Vorwarnung übergriffig werden würde? Der vierzigjährige Mann, der das minderjährige Mädchen anschreit und anfasst. Als vierte in eine der Reihen bekommt die nächste Erzählerin Angst: Was wird er mit ihr machen? Seine Hände gehen zu ihren Brüsten, zu ihren Beinen. Sie will das nicht, denkt sie und wird sich auch Jahre später noch emotional aus diesen Übergriffen hinauswinden. 

Fazit

In der „MeToo“-Debatte vermittelt der Film durch die Erzählungen der jungen Frauen eine Ahnung von Geschehnissen, die sonst nur im Dunklen passieren. Regisseurin Alison Kuhn lässt ihre empathische Kamera vollständig bei ihren Akteurinnen und alle Emotionen werden durch deren Dialoge und Gesten getragen: Wenn sich schützend die Arme um die Körper schlingen, die Blicke sich senken und die Tränen kommen, über die unangenehme Situation vor einer, damals immer voyeuristisch mitfilmenden, Kamera. Dabei lässt Alison Kuhn in ihrem dokumentarischen Ansatz den Darstellerinnen wohl das Wertvollste: nämlich den Raum auf der Bühne selbst zu bestimmen. In den Momenten, wenn sie reden, in den Momenten, wenn sie schweigen und in den Momenten, wenn sie sich wegdrehen und gehen. 



Alison Kuhn studiert seit 2018 Regie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. »The Case You« ist ihr Langfilmdebüt und feierte Weltpremiere auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival Amsterdam (IDFA), lief im Wettbewerb Max-Ophüls-Preis 2021 sowie im Programm des DOK.fest München @home 2021, wo der Film den Megaherz Student Award für sich gewinnen konnte. Auch den Deutschen Dokumentarfilmpreis 2021 in der Kategorie Kultur kam als Trophäe hinzu: Das gesellschaftliche Einverständnis für eine weibliche, selbstbestimmte Hinterfragung entfaltet sich immer weiter und schafft ebenfalls einen Raum, um stetig weiter zu dekuvrieren.


© Tina Waldeck 2021