[There is no Evil]

Mohammad Rasoulof | Iran, Tschechien, Deutschland 2020


Automatismus

Die Realität der Todesstrafen im Iran wird in das alltägliche Leben eingebunden und aus der Perspektive von vier Menschen inszeniert, die sie ausführen. Im ersten Fragment beginnt es beinahe wie bei einem Actionfilm: Ein mysteriöser Sack wird in einen Kofferraum gelegt. Die Lichter der Tiefgarage flackern und ein Familienvater fährt mit unbeweglichem Blick los. Die Kurven aus dem Parkhaus hinaus scheinen kein Ende zu nehmen. Am Ausgang wird er kontrolliert: Was hat er da, fragt der Wachmann. Na, seinen Reis. Wie immer. Unbeteiligte Miene in der scheinbaren Routine.

Er holt auf der gleichen Fahrt seine Frau von der Arbeit in der Schule ab, dann seine Tochter. Alltagsgeplänkel, Klatsch und Tratsch im Zwischenraum. Was schenken sie den Freunden zur Hochzeit? Verhältnisse von Mann und Frau, Gebundenheit und fehlende Autonomie werden deutlich. Für sich und die allein lebende Oma fahren sie einkaufen, putzen die Wohnung und kontrollieren die Hausaufgaben der Tochter. Die Tage sind gefüllt mit emsigen Verpflichtungen, die fleißig und diszipliniert abgearbeitet werden. Abends nimmt er Tabletten zum Einschlafen: Sein Wecker läutet um 03:00 morgens den neuen Tag ein. Der Kreislauf der Routine schließt sich, als er erneut in dem Auto zur Arbeit fährt und man sieht, welches Schema sich ebenfalls jeden Tag aufs Neue wiederholen wird.

Erkämpfe dir dein Leben

Szenenwechsel. Ein Mann legt verzweifelt seine Hände vor das Gesicht. In seiner Qual weckt er andere Männer auf, die mit ihm zusammen in einem kleinen Raum – wie in einer Gefängniszelle – schlafen. Sie beginnen sich zu streiten. Auch wenn es für seine persönlichen Ansichten etwas Falsches sein mag, dann hat er trotzdem seinen Befehl und einen Job zu erfüllen. Sie haben sowieso keine andere Wahl: Ohne die Erfüllung ihrer Wehrpflicht können sie später keinen Führerschein machen, kein Geschäft eröffnen, keine Familie gründen. Ohne bekommt seine Freundin keinen Pass, um im Ausland Musik studieren zu können. Sie ruft ihn an und er schluckt: Er hat Angst.

Er könnte diese Pflicht auch an einen anderen Mann übertragen und diesen dafür bezahlen. Aber klebt dann das Blut nicht trotzdem an seinen Händen? Schließlich zieht er seine Jacke an und setzt die Mütze auf. Einer der Männer legt ihm die Hand auf die Schultern und gibt ihm einen Zettel. Vielleicht hilft ihm dieser weiter. Dann tritt er bebend hinaus in den Flur, um den eigentlichen Gefangenen zu holen.


Filmbild aus There is no Evil ©Mohammad Rasoulof | Iran, Tschechien, Deutschland 2020
Filmbild aus There is no Evil ©Mohammad Rasoulof | Iran, Tschechien, Deutschland 2020

Es gibt kein Abwaschen der Schuld

Im nächsten Segment läuft ein anderer Mann eilig durch ein Gebirge und zu einem Fluss hinunter. Er wäscht sich lange und kämmt seine Haare ordentlich. Vor einem Haus trifft er auf eine junge Frau. Sie hat ihn nicht erwartet, aber er ist sehr willkommen: Sie flirten, er überreicht ihr feierlich einen Ring und macht ihr stolz – an ihrem Geburtstag – einen Heiratsantrag. Trotz der großen Freude darüber ist sie traurig, denn ihr geliebter Lehrer ist hingerichtet worden und sie hat ihm viel zu verdanken. Zwiegespaltene Gefühle bei beiden. Der junge Mann ist verunsichert, eifersüchtig. 

Draußen regnet es in Strömen, als er von der Familie warmherzig in ihrem Kreis begrüßt wird. Da schaut er auf das Bild des Verstorbenen und schluckt. Er läuft wieder in den Regen hinaus und zurück an den Fluss. Lange taucht er unter, taucht wieder auf, um zu schreien und danach wieder unterzutauchen. Sie läuft zu ihm und legt ihm seine Soldatenjacke zusätzlich wie eine Last und doch liebevoll schützend über die Schultern – was ist denn nur los mit ihm?

Versuchen, in dem System zu überleben

In der letzten Geschichte beobachtet ein Ehepaar am Flughafen hinter einer Scheibe die Ankunft der Reisenden. „Da, da ist sie!“ Das junge Mädchen wird begrüßt. Sie ist abwesend und spricht in ihr Telefon: Ihr Vater möchte ihren Onkel sprechen, erklärt sie. Dieser brauche sich keine Sorgen zu machen, versichert der ältere Mann. Sie fahren zusammen mit dem Auto. Ihr Persisch ist überraschend gut und sie findet das Kopftuch cool. Sie beginnt gerade ihr Medizinstudium. Schweigen, welches in der Luft liegt. Das Gefühl einer Bedrohung, eines Geheimnisses. 

Trotz ihrer Offenheit behält sie eine abweisende Distanz. Auch ihr Onkel ist Arzt, irgendwie, genau wie ihr Vater. Die beiden waren an der gleichen Uni. Wie kann er nur seit 20 Jahren hier leben, fragt sie ihn am nächsten Morgen. Ohne Internet und Telefon. Er kümmert sich ruhig um ein paar Bienenstöcke im Garten. Symbolismus. Sie haben sich mit der Situation arrangiert. Er hustet Blut. Bevor er stirbt, möchte er dem Mädchen die Wahrheit erzählen.



Fazit

In allen Facetten menschlich, zeigt der Film das Überleben des Einzelnen in den jeweiligen unterschiedlichen Milieus, Lebensumständen und Lebensabschnitten zwischen ihrem Alltag und den ihnen zugeteilten Aufgaben im Iran, die sie aus bestimmten Motivationen erfüllen müssen oder mussten. Das Ringen mit der eigenen Moral, ein Scheitern daran oder ein Erheben in einen Widerstand: Subtile Botschaften und Statements, an die genauso bedacht auf filmischer Ebene herangegangen wird, wie die Männer versuchen aus dem System auszubrechen oder sich stoisch hineinfügen. Dabei verbindet Mohammad Rasoulof die losen und für sich stehenden Episoden vielschichtig zu einer fließenden und feinsinnigen Systemkritik.


»There is no Evil« gewann den Goldenen Bär auf der Berlinale 2020 und lief beim Lichter Filmfest 2021 im internationalen Filmprogramm, präsentiert von Amnesty International Frankfurt am Main.


© Tina Waldeck 2021