[Shahid]

Narges Kalhor | Deutschland 2024


Langsam bewegt sich die Kamera nach oben, während die Schauspielerin (Baharak Abdolifard) als Pendant zur Filmemacherin auf dem harten Boden der Realität liegen bleibt. Füße wirbeln um sie herum. Intensiver Bass. Die Tanzenden wirken beschützend und doch bedrohlich einengend. Das Trauma zeigt sein Gewand, als sie zur rückwärts laufenden Uhr unbekleidet aufsteht, um den Kreislauf zu verlassen.

Das eigene Schicksal mündet im Chaos der Geschichte

Sie streckt sich, als wolle sie den Ballast einfach abschütteln. Während die Menschen außerhalb ihrer Wohnung rückwärts laufen, kämpft sie sich vorwärts. Rhythmische verfolgen sie dabei die unsichtbaren Dämonen aus der Vergangenheit, die zusammen mit ihrem Zweitnamen Shahid ein für alle Mal aus ihrer Gegenwart verschwinden sollen.


Filmbild aus Shahid ©Narges Kalhor | Deutschland 2024
Filmbild aus Shahid ©Narges Kalhor | Deutschland 2024

Denn Shahid, das ist einer, der für sein Land gestorben ist – ein Märtyrer – erklärt der Entertainer im orangenen Gefängnisoutfit. Er führt das Publikum in den Mittleren Osten um 1906: Da gab es Proteste gegen Korruption, gegen Russland und gegen die Monarchie. Da gab es eine Revolution für die iranische Demokratie. Und da gab es einen Mann. Immerhin kann dieser von Glück sagen, das er tot ist – so hat er zwei Weltkriege verpasst.

Aber dieser ganze “historische Scheiß“ ist ihr eigentlich völlig egal. Alles erscheint ihr daran männlich: DIESER Gott, DIESE Gewalt, DIESE Härte. Diese Fallstricke des Systems. Die Frau vom Amt legt ihr sachlich die Adresse des iranischen Konsulats hin. Sich mit ihrem Schicksal abzufinden wäre günstiger. Alle geforderten amtlichen Dokumente platzieren sich dominant im Bild. Es gibt immer etwas, das fehlt, beklagt sie in der Therapie. Am Höhepunkt der Verzweiflung bricht die emotionale Schräglage immer mehr auf – und mit dem Greenscreen zusammen.

FAZIT

Die iranische Filmemacherin, die 2009 während eines Festivals in Deutschland Asyl beantragte, lässt ihr Leben im künstlerischen Arbeitsprozess vorbeiziehen. Das Medium Film schenkt ihr dabei einen Safe Space, in dem sie sich heimisch fühlen kann. Hier bekommt sie die Möglichkeit, politische und gesellschaftliche Dinge kritisch zu hinterfragen – ohne die Konsequenzen spüren zu müssen. Dabei dekonstruiert sie immer wieder die Wahrnehmung von Realität – als Kind dachte sie zum Beispiel, es sei völlig normal, in ein anderes Land zu fliehen, weil das so viele in ihrem Umfeld taten. Mit ihren autobiografischen Ansätzen bleibt das Weinen, aber auch das Lachen durchgehend authentisch.

Dabei kann über das experimentell-chaotische Konzept als prägende Handschrift gelächelt werden, das sichtlich auch runder und glatter hätte sein können – aber genau so bleibt es nah am Leben, mit einer bodenständigen Absurdität, die für viele nachvollziehbar bleibt. Das Filmteam geht mit Schwung durch das Leben und ist motiviert genug, allen Sorgen zum Trotz, die gesellschaftlichen Probleme aufzuzeigen, ohne sich davon einengen zu lassen. Die so im Film transportierte Energie von Menschlichkeit wird in jeder Vorstellung auch im Publikum spürbar – und zieht es mit. Ein kraftvolles Feuer des Aufbruchs, welches in DIESER Zeit mehr als modern erscheint. 



«Shahid» lief als Weltpremiere bei den 74. Internationalen Filmfestspielen Berlin 2024 im Forum und als Eröffnungsfilm auf dem 17. Lichter Filmfest Frankfurt International 2024.


© Tina Waldeck 2024